Eine neue Erkenntnistheorie

04.06.2015 22:21

Um zu verstehen, wie Erkenntnis funktioniert, muss man sich erst einmal den Zustand anschauen, der unmittelbar vor dem Erkenntnisvorgang vorliegt: den Zustand, in dem man die Dinge zwar betrachtet aber noch nicht mit dem Denken reflektiert, in dem noch nicht die allergeringste Aussage über die Dinge vorgenommen wird und nur die reine Erfahrung der Sinneswahrnehmungen, der Gefühle, existiert. In dem unmittelbar gegebenen Weltbild ist nämlich alles noch unbestimmt, zusammenhanglos, nichts ist wichtiger als etwas anderes, die Gegensätze von Materie und Geist, von Welt und Ich gibt es noch nicht.

Ist es berechtigt, zu sagen, dass die Wahrnehmung nur subjektiv sei? Nein, denn wir bringen sie nicht hervor. Es ist nicht möglich, willkürlich die wahrgenommene Welt zu verändern. Nur deshalb kann es überhaupt ein Erkenntnisstreben geben, denn würden wir die Welt selbst erzeugen, würden wir ihren Inhalt schon vollkommen kennen und müssten sie nicht erst kennen lernen, um sie zu verstehen. Dabei spielt keine Rolle, ob unsere Organisation die Welt in Wahrnehmungen übersetzt. Ob Ton jetzt ursächlich Ton ist oder Schwingung oder eine göttliche Eingebung, ändert gar nichts an seiner Realität - der Ton entsteht außerhalb unserer selbst, er kommt an uns als objektiv Gegebenes heran.

 

(Es ist schlichtweg paradox, zu sagen: Unser Gehirn verwandelt elektrische Signale in die Wahrnehmung von Licht - dies beweise, dass unsere Wahrnehmung nur subjektive Vorstellung sei. Wäre dieser Schluss richtig, wäre schließlich auch die Untersuchung nur subjektiv, höbe sich also selber auf. Man kann nicht aus einer Vorstellung beweisen, dass sie eine Vorstellung ist. ) Irrtum kann es nur im Erkenntnisakt geben. "Die Sinnestäuschung ist kein Irrtum. Ein Fehler in der Erkenntnis entstünde erst, wenn wir bei der Kombination der gegebenen Wahrnehmungen im Denken [die Erscheinung] unrichtig deuteten."*

Will man nun erklären, wie Erkenntnis möglich ist, muss man den Bereich der Erfahrungswelt aufsuchen, der erst durch den Erkenntnisakt entsteht. Bei Begriffen und Ideen wissen wir unmittelbar, dass diese nur durch den Erkenntnisakt in den Bereich des Gegebenen eintreten. Das, was dem Rest der Welt, außerhalb der Begriffe und Ideen, die wir tatsächlich selbst hervorbringen, der Welt fehlt, nämlich der gesetzliche Zusammenhang ist in den Begriffen und Ideen schon enthalten. Denn wir bringen sie selbst hervor. "Deshalb nun, weil wir innerhalb des Gedankeninhaltes stehen, denselben in allen seinen Bestandteilen durchdringen, sind wir imstande, dessen eigenste Natur wirklich zu erkennen."**

Dass wir die Gedanken selbst hervorbringen, heißt jedoch nicht, dass ihr Inhalt nur subjektiv sei. Erst durch das Denken entstehen die Begriffe von Subjekt und Objekt. "Das Subjekt denkt nicht deshalb, weil es Subjekt ist, sondern es erscheint sich als ein Subjekt, weil es zu denken vermag."
(Wäre das Denken nur subjektiv, würde es den von ihm geschaffenen Begriff Subjekt relativieren. Wenn man sich fragte, ob das Denken subjektiv oder objektiv sei, müsste man um die Frage objektiv zu lösen, Zugang zu etwas haben hinter dem Denken, einer Art Meta-Denken. Ein Meta-Denken, dass ja nur durch das gewöhnliche Denken entsteht kann, fällt es zusammen und bleibt dasselbe. Man kann also nur nach der Logik urteilen, und diese besagt, dass nur die Antwort: das Denken ist objektiv, - keinen Widerspruch erzeugt.
Das das Denken subjektiv sei, ist also schlichtweg undenkbar.)

Obwohl das Denken Tätigkeit des Subjekts ist, ist es dem Denken nicht möglich, Dinge willkürlich aneinanderzureihen. Ich kann nicht entscheiden, einen Baum als Hund zu erkennen. Das liegt daran, dass wir Begriffe und Ideen vollkommen kennen, sie sind nicht leere Form wie die Objekte der Sinneswahrnehmung, sondern Inhalt.
(Von einem Zwang kann man dabei nicht sprechen, denn wir denken logisch aus vollständiger Einsicht in die Sache.) Damit ist auch klar, dass es nicht so viele Gedankenwelten gibt, wie Menschen, sondern nur eine einzige, an der alle denkenden Wesen Anteil haben. Ein Dreieck bleibt immer ein Dreieck, egal von wie vielen Menschen es gedacht wird.

Das Bewusstsein findet sich also in einer doppelten Wirklichkeit wieder: auf der einen Seite die Welt der gegebenen Wahrnehmungen auf der anderen Seite die Welt des ebenso objektiven Denkens.
Kennzeichen der Erfahrungswelt ist die Besonderheit: jedes Objekt ist von allen anderen unterschiedlich. Kennzeichen der Begriffswelt ist die Einheit, ein Begriff bleibt unendlich oft vorgestellt, immer derselbe. Weder findet man den Begriff in der Erscheinungswelt, noch die Erscheinung im Begriff. Keines von allen Dreiecken der Erfahrungswelt ist das Dreieck des Begriffs. "Der allgemeine Inhalt des Begriffs lässt sich nicht anschauen, die Besonderheit der Wahrnehmung nicht begreifen. Aber die Besonderheiten der Wahrnehmungen fügen sich dem Allgemeinen des Begriffs ein, sie erweisen sich als zum Begriff gehörig. (...) Begriff und Wahrnehmung können nur als zwei Seiten einer und derselben Wirklichkeit angesehen werden. Sie widersprechen sich nicht, sondern sie ergänzen sich vielmehr. Das ganze der Wirklichkeit ist weder im Begriff noch in der Wahrnehmung erschöpft, sondern in der Einheit beider. (...)

Die volle Wirklichkeit ergibt sich uns im Moment der Synthese von Wahrnehmung und Begriff in der denkenden Beobachtung. Durch diesen Akt erhält aber der Begriff eine individuelle Gestalt, einen Bezug zu dieser bestimmten Wahrnehmung. Ist dann die Wahrnehmung wieder aus dem Gesichtskreis verschwunden, dann bleibt der Begriff mit der Beziehung zur Wahrnehmung zurück und ist, je nach individueller Fähigkeit, erinnerbar. Und dieser auf eine bestimmte Wahrnehmung bezogene Begriff ist die Vorstellung. (...)

Die 'Idee des Erkennens' ist in der Vereinigung der durch die Organisation des Bewusstseins zerrissenen Wirklichkeit in die bewusste Wirklichkeit realisiert. Und in dieser Realisierung der Idee des Erkennens liegt die Bedeutung des Bewusstseins." Die Organisation des Bewusstseins trennt also die Einheit der Welt, um sie dann durch eigene Tätigkeit im Erkenntnisakt bewusst wieder zu vereinigen. Würde das erkennende Bewusstsein sich einer schon fertigen Welt gegenüberfinden, in der Begriff und Wahrnehmung nicht mehr durch uns zusammengefügt werden müssen, wäre es ganz unerklärlich, wie dieses Bewusstsein überhaupt entstehen könnte.

Manche Menschen glauben, die Erkenntnis verbinde etwas Bekanntem mit etwas Unbekanntem, das hinter der Welt liegt und damit etwas existiere, wozu wir mit unserer Erkenntnis nie Zugang haben können. Doch aus dem hier abgeleiteten Wahrnehmungsbegriff folgt, dass die Erkenntnis nur zwei uns wohlbekannte Bereiche der Wirklichkeit miteinander, verbindet die Wahrnehmungswelt und die Begriffswelt. Dadurch besteht keine Grenze des Erkennens.

Quellen: * Rudolf Steiner: "Wahrheit und Wissenschaft", 1891, Kap. IV
               **Rudolf Steiner: "Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung", 1886, C8
               +Rudolf Steiner: "Die Philosophie der Freiheit", 1994, Kap. IV
               ++Bernhard Kallert: "Die Erkenntnistheorie Rudolf Steiners", 1941

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