Das Arzneimittel-Tollhaus Deutschland

04.06.2015 08:53

In Deutschland werden jährlich rund 1250 Röntgenuntersuchungen pro 1000 Einwohner vorgenommen. In den Niederlanden und Schweden liegt diese Zahl zwischen 500 und 600. Dabei ist die ärztliche Versorgung in diesen Ländern auf Grund europäischer Vergleichsstudien erheblich besser als bei uns. Auf bis zu 50 Prozent der jährlich rund 100 Millionen durchgeführten Röntgenuntersuchungen könnte verzichtet werden, ohne daß die Qualität des ärztlichen Handelns darunter leiden würde - Einsparpotenzial: eine Milliarde Euro. Infolge von Röntgenuntersuchungen erkranken in Deutschland etwa 50 000 Menschen jährlich an Krebs, 15 000 davon sterben.

Von den jährlich rund 200 000 an deutschen Kliniken vorgenommenen Gebärmutterentfernungen ist "mindestens jede Zweite überflüssig". Bei Frauen, denen auf Grund von Bauchbeschwerden der Blinddarm entfernt wurde, stellte sich laut Prof. J. Waninger von der Universität Freiburg heraus, daß in 75 Prozent aller Fälle die Beschwerden auch nach dem Eingriff noch vorhanden waren. Bei 40 Prozent aller Eierstockoperationen lag keine ausreichende medizinische Begründung vor.

Die Zahl der Herzkatheter-Labors hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der Katheteruntersuchungen um 250 Prozent auf rund 490 000 angestiegen. Die meisten Herzkatheter-Unterschungen werden anscheinend nur um ihrer selbst willen gemacht, es schließt sich keine Therapie an. "Da kann man schon auf die Idee kommen", so der Berliner Herzspezialist Professor Eckart Fleck, "daß mancher Kardiologe mehr für sein Konto als für den Patienten arbeitet."

Deutschland nimmt im internationalen Vergleich mit rund 70 Krankenhausbetten je 10 000 Einwohner einen Spitzenplatz ein. Gleichzeitig dauert die Krankenhausbehandlung hier zu Lande mit durchschnittlich 12 Tagen je Krankenhausfall am längsten. Der Grund: Die Betten müssen belegt sein. Regierungsberater Professor Karl W. Lauterbach rechnete vor, daß hier zu Lande etwa 230 000 (von rund 550 000) Klinikbetten abgebaut werden müßten, um auf den internationalen Durchschnittswert zu kommen. Das Sparpotenzial beläuft sich in diesem Bereich auf rund 20 Milliarden Euro.

 

Eine von der Schwäbisch Gmünder Ersatzkasse in Auftrag gegebene Studie ergab, daß 30 Prozent aller Knie-Operationen überflüssig sind und darüber hinaus 50 Prozent der Operierten mit dem Ergebnis nur bedingt oder gar nicht zufrieden waren. Andererseits ist es innerhalb von nur drei Jahren zu einem Anstieg arthroskopischer Eingriffe von 600 Prozent gekommen. Bei 442 kontrollierten Spiegelungen des Magens waren 43 Prozent medizinisch unbegründet. Deutsche Chirurgen amputieren bei Zuckerkranken viel zu häufig: In unseren Kliniken werden pro Jahr fast 30 000 Amputationen vorgenommen. "Das sind viel mehr als in anderen europäischen Staaten", sagte Hans Henning Wetz von der Universität Münster. "Es könnten 8000 bis 10 000 weniger sein." Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Deutschland schon vor Jahren in einer Deklaration aufgefordert, die Amputationen bei Zuckerkranken zu halbieren.

Derzeit werden auf Grund von jährlich vier Millionen "grauen Mammographien" 100 000 Frauen operiert, die nicht operiert werden müßten, wenn stattdessen mit der Qualität der europäischen Nachbarländer wie zum Beispiel der Niederlande gescreent würde, heißt es in einem Gutachten des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. Von den jährlich 100 000 operierten Frauen sterben im Schnitt 4 000.

Überflüssige, d. h. medizinisch unbegründete Operationen werden fast allen Fachgebieten vorgeworfen. Insgesamt sollen sich von den jährlich acht Millionen vorgenommenen Eingriffen etwa die Hälfte als nicht notwendig erweisen. Der Münchner Medizin-Informatiker Wilhelm von Eimeren warnte vor allzu unspezifischen Massentests. Damit drohen die Deutschen zu einem "Volk von Vorsorgegeschädigten" zu werden. Falls das Verhalten der Ärzte selbst und ihrer Familienangehörigen zum Maßstab genommen würde, könnten nach Schätzungen von Experten allein 30 Millionen Krankenhaustage oder ca. 22 Milliarden Euro eingespart werden - "aber auch Zehntausende von Toten sowie Hunderttausende Medizingeschädigte pro Jahr verhindert werden". Bei Operationen der Gallenblase liegt die Eingriffshäufigkeit 84 Prozent höher, bei Hämorrhoiden-Operationen 83, bei Gebärmutteroperationen 53 Prozent und bei Mandeloperationen immer noch 46 Prozent höher als bei Ärzten und ihren Familienangehörigen. Dafür lehnen fast 95 Prozent der Ärzte für sich und ihre Familienangehörigen eine Chemotherapie bei Krebs ab.
 
Das Wissenschaftliche Institut der Allgemeinen Ortskrankenkassen hat errechnet, daß die Lebenserwartung der Bevölkerung im gleichen Maße sinke wie die Arztdichte in Ballungsräumen zunehme. Die Ärzte bestätigen diese Erfahrung: Zwei Drittel geben an, daß Ärzte gelegentlich oder sogar häufig therapeutisch überflüssige Leistungen erbringen.

Mehr als die Hälfte der deutschen Ärzte kann nicht fachgerecht mit Arzneimitteln umgehen. Der bekannte Internist und Klinische Pharmakologe Prof. Dr. Jürgen C. Frölich an der Medizinischen Hochschule Hannover sagt in diesem Zusammenhang: "Ein erheblicher Teil der Ärzte weiß nicht, wie viel Wirkstoff sie einem individuellen Patienten verschreiben dürfen und wie viel ihn womöglich umbringen wird." Frölichs Institut hat diese erschreckende Erkenntnis an 168 Ärzten in deutschen Krankenhäusern gewonnen. Diese Ärzte arbeiteten im Durchschnitt seit drei Jahren an ihren Kliniken, "waren also keine Neulinge".

Kein Wunder, daß auch die Zahl der durch Arzneimittel geschädigten Patienten ohne direkte Todesfolge ungeheuer groß ist.  Mehr als zwei Millionen ältere Menschen über 60 Jahre müssen jährlich nur deshalb in Kliniken eingewiesen werden, weil sie von niedergelassenen Ärzten unsachgemäß mit Medikamenten behandelt werden.
Seit langem gilt Deutschland im internationalen Vergleich als das Arzneimittel-Tollhaus Europas. Schon heute zählt hier zu Lande die unüberschaubare Fülle der Zäpfchen und Pillen, Tropfen und Salben - insgesamt soll es zwischen 50 000 und 60 000 verschiedene medikamentöse Darreichungsformen geben - zu den wichtigsten Todesursachen.

Nach: Kurt G. Blüchel: Arzneimittel-Tollhaus Deutschland. Eine Bestandsaufnahme der gigantischen Verschwendungen im deutschen Medizinbetrieb. In: Frankfurter Rundschau  vom  02.11.03.

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